K.K. Patel: Europäische Integration. Geschichte und Gegenwart

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Titel
Europäische Integration. Geschichte und Gegenwart


Autor(en)
Patel, Kiran Klaus
Reihe
C.H. Beck Wissen
Erschienen
München 2022: C.H. Beck Verlag
Anzahl Seiten
127 S.
Preis
€ 9,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Christian Schweiger, Institut für Politikwissenschaft, Technische Universität Chemnitz

In dem vorliegenden Buch präsentiert Kiran Klaus Patel eine komprimierte und dennoch durchaus fundierte Analyse der Entwicklung der institutionellen Integration in Europa. Patels Analyse ist in fünf Kapitel untergliedert, die sich im Einzelnen mit den Grundlagen der Idee der europäischen Einigung, den institutionellen Grundlagen und der Entwicklung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) in den ersten zwei Jahrzehnten seit der Gründung in den 1950er-Jahren, der schrittweisen und schwierigen Entwicklung hin zur Europäischen Gemeinschaft und dem neuen Impetus durch Gründung der Europäischen Union sowie der andauernden Krisenphase seit 2009 beschäftigen.

Patel weist im ersten Kapitel auf die anfänglichen Schwierigkeiten hin, die Idee der europäischen Integration konkret im Rahmen eines gemeinsamen institutionellen Rahmens auszugestalten. Die Folge war die Koexistenz verschiedener Organisation, innerhalb derer die Staaten Europas unterschiedliche Formen der Kooperation praktizierten. Die Entstehung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) unter den Römischen Verträgen im Jahr 1957 mit ihrem Vorläufer, der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl, waren deutlich geprägt von der ideologischen begründeten Teilung Europas und der Notwendigkeit, die 1949 aus den Trümmern des Nazi-Regimes entstandene westdeutsche Bundesrepublik wirtschafts- und sicherheitspolitisch einzubinden. Patel betont in diesem Zusammenhang auch die eher pragmatische Haltung Frankreichs, die den Prozess der institutionellen europäischen Integration vor allem als „innovatives Instrument [begriff], um in der werdenden Nachkriegsordnung die französische Vormachtstellung in Westeuropa zu sichern“ (S. 15). Den politischen Repräsentanten der noch jungen Bonner Republik ging es dagegen vor allem um die Integration in die internationale Staatengemeinschaft und die Akzeptanz als demokratischer Staat. In dieser wichtigen Feststellung der Grundlage der deutsch-französischen Partnerschaft als Kernmotor des Prozesses liegen zum einen die nachfolgenden Fortschritte in der Vertiefung der Integration von den Anfängen der währungspolitischen Integration im Rahmen des Europäischen Währungssystems (EWS) 1979 bis hin zur Unterzeichnung der Einheitlichen Europäischen Akte (EEA) 1986 und der Schaffung der Europäischen Union durch den 1992 unterzeichneten Maastrichter Vertrag begründet.

Zum anderen wurde von Anfang an deutlich, dass das deutsch-französische Tandem in vielen Fragen, unter anderem bei der Ausgestaltung des Europäischen Binnenmarktes, der Agrarpolitik und einer möglichen gemeinsamen Europäischen Sicherheitspolitik unterschiedliche Vorstellungen hatte. Während der Zeit des Kalten Krieges manifestierte sich dies vor allem in der Frage der Westbindung und der möglichen Autonomie einer Europäischen Sicherheitspolitik vom transatlantischen Sicherheitsbündnis unter der Führung der USA. Die ersten beiden Jahrzehnte nach der Gründung der EWG waren daher von „gravierenden Richtungsstreitigkeiten“ (S. 35) geprägt, die sich noch verschärften, als nach dem Ende der Ära De Gaulle das zuvor zweimal abgelehnte Beitrittsgesuch Großbritanniens möglich wurde.

Nach dem Beitritt Großbritanniens und der schrittweisen Erweiterung der Gemeinschaft rückten die Auseinandersetzungen über die Prioritäten der Integration zunehmend in den Vordergrund. Die Frustration der Briten über die mangelnden Fortschritte bei der Liberalisierung des Binnenmarktes und die aus ihrer Sicht deutsch-französischen Bestrebungen, die Gemeinschaft in Richtung einer politischen Union zu steuern, führte zu einer zunehmenden britischen Blockadepolitik unter Premierministerin Thatcher in den 1980er-Jahren. Dass Thatcher dennoch gemeinsam mit dem französischen Präsidenten François Mitterrand und dem westdeutschen Bundeskanzler Helmut Kohl mit der EEA 1986 den Weg für den Maastrichter Vertrag damit auch für die Schaffung einer gemeinsamen europäischen Währung, für die Ausweitung qualifizierter Mehrheitsentscheidungen und für weitere politische Vertiefung ebnete, ist vor allem mit ihrer Präferenz für die rasche Liberalisierung des Binnenmarktes, vor allem im Bereich der Finanzdienstleistungen, zu erklären.

Mit der zunehmenden Erweiterung der Gemeinschaft wurde jedoch die politische Vertiefung nur noch selektiv möglich. Gerade seit Maastricht entwickelte sich in diesem Bereich eine Union der „variablen Geometrie“ (S. 56), die sich durch zahlreiche Ausnahmeregelungen für individuelle Mitgliedsstaaten auszeichnet. Gleichzeitig wurde vor allem die wirtschaftliche Liberalisierung der Union vorangetrieben, die vor allem von Seiten der Arbeitnehmer:innen und Gewerkschaften zunehmend kritisch gesehen wurde. Die sich bereits in den 1980er-Jahren manifestierende „Eurosklerose“ (S. 47) verstärkte sich folglich durch die Neoliberalisierung der EU und der vor allem vom deutschen Ordoliberalismus geprägten politischen Architektur der gemeinsamen europäischen Währung. Die Wirtschafts- und Währungsunion als Kernprojekt der EU wurde dabei vor allem zum politischen Projekt, bei dem die Beitrittskriterien des ordoliberalen Stabilitäts- und Wachstumspaktes bei den Gründungsmitgliedern des Euro großzügig angewandt wurden. Erst nach der globalen Finanzkrise und der nachfolgenden Staatsschuldenkrise im Euro, die sich zu einer systemischen Krise des Euroraums auszuweiten drohte, wurden zukünftige Euro-Beitrittskandidaten mit strikter Konditionalität konfrontiert. Dies betraf vor allem die neu zur EU gekommenen ostmitteleuropäischen Staaten, die sich bereits im Vorfeld des Beitritts 2004 und 2007 mit den speziell für die Osterweiterung neu geschaffenen Kopenhagener Mitgliedschaftskriterien konfrontiert sahen. Die EU-15 zeigte folglich wenig Skrupel, die früheren Staaten des Ostblocks durch strikte Konditionalität als Europäer zweiter Klasse zu behandeln und sie als Teil dieser Konditionalität auch einer neoliberalen Rosskur zu unterziehen. Wie Patel in diesem Zusammenhang richtig feststellt: „Liberalisierung, Deregulierung und Privatisierung gehörten zum ökonomischen Mantra der EU, mit entsprechenden Folgen für bestehende Strukturen.“ (S. 79) Gleichzeitig versäumt es die EU, trotz zahlreicher Strategien wie Lissabon und Europa 2020, die Liberalisierungsagenda im Binnenmarkt mit der effektiven Koordinierung nationaler Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik zu kombinieren.

Seit 2009 befindet sich die EU durch zahlreiche externe Krisen im quasi permanenten Krisenmodus. Diese Entwicklung ist Gegenstand des abschließenden Kapitels in Patels Buch. Die Finanz- und Eurokrise 2009–13, die ‚Flüchtlingskrise‘ des Sommers 2015 sowie die nachfolgende Corona-Pandemie 2020–22 und die aktuelle militärische Invasion Russlands in der Ukraine offenbarten alle mehr oder weniger die politischen Versäumnisse der vorangegangenen Jahrzehnte. Patel kommt in seiner abschließenden Bewertung trotz der Anerkennung einiger grundlegender Defizite dennoch zu dem Schluss, dass die EU diese Krisen jeweils individuell „produktiv für sich wenden“ konnte (S. 124). Diese Einschätzung ist gerade in Hinblick auf die zahlreichen durch die genannten Krisen entstandenen aktuell noch immer unbewältigten Probleme zumindest fraglich. Auch zehn Jahre nach der Eurokrise wächst die wirtschaftliche und soziale Spaltung der Union, eine gemeinsame Strategie zur Bewältigung der andauernden Migrationswelle nach Europa ist nicht in Sicht und in sicherheitspolitischer Hinsicht fehlen der EU weiterhin die Kapazitäten zur militärischen Krisenbewältigung jenseits der NATO. Die EU erweist sich aktuell daher nicht nur in sicherheitspolitischer Hinsicht als unfähig, gemeinschaftlich fundamentale Herausforderung zu bewältigen. Patel konnte zum Zeitpunkt der Veröffentlichung des Buches die russische Invasion in der Ukraine selbstverständlich noch nicht voraussehen. Dennoch waren auch schon vor der Ukraine-Krise die sicherheitspolitischen Schwächen der EU offenkundig. Patel warnt allerdings durchaus davor, dass die Kombination mehrerer Krisen die EU in Zukunft überfordern und daraus eine existenzielle „Fundamentalkrise“ für die Gemeinschaft entstehen könnte. Insbesondere die Tendenz zur Verteidigung nationaler Interessen und sogar zur Renationalisierung strategischer Politikbereiche birgt die Gefahr, dass die Existenzberechtigung der EU und damit auch die historischen Errungenschaften des europäischen Einigungswerkes auf nationaler Ebene zunehmend in Frage gestellt werden.

Kiran Klaus Patels Buch bietet gerade für Student:innen der europäischen Integration, aber auch für andere interessierte Leser:innen ein informatives, komprimiertes und durchaus kritisches Referenzwerk zur historischen Entwicklung der institutionellen europäischen Integration und zur EU in ihrer aktuellen Zusammensetzung.